Im Schilf

"Das ist eine lange und komplizierte Geschichte." erklärte er ihr und schaute nachdenklich auf das klare Wasser. "Sie kam ins Waisenhaus, ich zu Verwandten. Aber ich glaube nicht, dass du die ganze geschichte hören willst." Er lächelte schief.

Die ganze Geschichte würde ich auch gerne mal hören... Alysha beäugte Jake misstrauisch. Irgendwie mochte sie ihn... aber war er wirklich ihr Bruder? Sie hatte einen Bruder???

Jake bemerkte Alyshas misstrauischen Blick.
Er schaute sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.
"was?2 fragte er verwirrt.

Alysha zuckte mit den Schultern und blickte traurig zu Boden. "Ich weiß es nicht.", flüsterte sie. Gefühlschaos... Angst, Wut, Liebe, Traurigkeit, große Fragezeichen... ich würd mich jetzt echt am liebsten hinsetzen und heulen...

Jake schaute sie besorgt an und legte ihr einen Arm um die Schulter.
Er wusste nicht, ob es okey war.
Aber wenn nicht, dann konnte sie ruhig was sagen.
"Was hast du, Alysha? Du kannst mit mir über alles reden und wir werden eine Lösung finden." sagte er leise und sanft.

Alysha schüttelte heftig den Kopf. "Nein, das kann ich nicht! Mach dir nichts vor, Jake, ich kenn dich doch gar nicht! Du kannst mir tausendmal sagen, dass du mein Bruder bist, und doch wirkst du so fremd auf mich. Ich kann dir nicht einfach von heute auf morgen vertrauen!"

"das verstehe ich doch!" meinte er lächelnd und zog sich ein wenig zurück.
"Du musst mir nichts erzählen, wenn du nicht möchtest. Es liegt in deiner Wahl!"
Dann seufzte er.
"Vertrauen baut sich erst nach und nach auf. Und glaube mir, irgendwie werde ich eine Lösung finden, wo du mir am Ende glaubst, dass wir Geschwister sind."

Alysha schwieg, was sollte sie auch sagen. Es war schwer zu erklären, dass man Glauben nicht mit Vertrauen gleichsetzen konnte. Vermutlich glaubte sie Jake jetzt schon - warum sollte er sie auch belügen? - aber vertrauen? Nur weil er ihr Bruder war? Bestimmt nicht.

Jake lehnte sich zurück.
Er war sehr gespannt auf seine Aufgabe als Lehrer,
Wie würden die Schüler auf ihn reagieren?
Was sollte er machen, wenn plötzlich jemand die Kontrolle verlor?
Jake seufzte und schaute ihn den Himmel.

Alysha blickte weiterhin zu Boden und partout nicht zu Vivalie oder Jake. Langsam wickelte sie sich eine Haarsträhne um den Finger und schielte aus den Augenwinkeln zum Horizont. Jeden Moment konnte Gabriel dort auftauchen und dann wäre es vorbei mit dem kleinen bisschen Freiheit, das sie sich soeben mühsam errungen hatte. Sie hatte Angst davor, denn sie wusste, dass sie nicht gewonnen hatte. Sie hatte ihn nur wütend gemacht...

Jake war so froh, dass er nach all den Jahren endlich seine Schwester gefunden hatte.
Es verletzte ihn ein wenig, dass sie ihm nicht glaubte.
Aber was hatte er erwartet?
Dass sie ihm gleich um den Hals fallen, wenn sie ihn sehen würde?
Er seufzte leise.
Jake würde niemals die Hoffnung aufgeben, dass Alysha ihn doch irgendwann mal glauben würde, dass sie Geschwister waren.
Dafür war er auch einfach zu stur.
Aber was sollte er nur machen, dass sie ihm glauben schenkte??

Viv fühlte sich unwohl. Ihr war klar, das der Engel nicht besiegt war, sondern ihnen nur eine Pause gönnte. Sie hasste das Wissen, das er jeder Zeit zurückkommen könnte, und sie ihm sofort wieder hilflos ausgeliefert wären. Ob er sterben konnte? Bestimmt. Vielleicht nicht dauerhaft, aber...
Viv zuckte zusammen. Es war das erste mal, das sie ernsthaft daran dachte, jemanden freiwillig umzubringen! Entsetzt starrte sie auf den Boden. Nein! Natürlich würde sie ihn nicht töten! Sie hätte nie getötet, wenn sie eine Wahl gehabt hätte...
Was tat sie überhaupt hier? Alysha und Jake schienen irgendetwas klären zu müssen.

JAke bemerkte, wie Vivalie plötzlich zusammen zuckte.
"Ist... alles okey mit dir?2 fragte er besorgt.

"Nein.", murmelte Viv gedankenverloren. "Und das wird es auch nie wieder sein."

"Aber es kann besser werden.", sagte Alysha plötzlich mit fester Stimme. "Wenn man ganz unten ist, dann kann es nur noch besser werden, oder?" Sie sah die anderen beiden verunsichert an.

Jake nickte Alysha aufrichtig zu.
"Ja, es kann nur noch besser werden, wenn man fest daran glaubt!"
Seit wann denkt sie so? hieß es nicht vorhin noch, ich schaff das nicht? oO
Dennoch lächelte er.

Alysha zog die Mundwinkel leicht hoch, lächelte aber nicht. Sie würde von nun an nicht einmal mehr sich selbst eingestehen, wie groß ihre Angst war.

"Vielleicht.", meinte Viv mit einem leisen Lächeln. "Aber vielleicht öffnet sich der Abgrund noch weiter und man stürzt."
Sie wusste nicht mehr, was sie denken sollte. Sie sollte gar nicht hier sein. Es könnte jeden moment wieder passieren. Es war verantwortungslos, aber sie wollte doch nicht gehen, sie wollte bleiben...

"Das baut mich jetzt auf.", sagte Alysha trocken. Unruhig wippte sie auf ihren Fußballen und wartete nur darauf, dass schwarze Federn am Horizont auftauchten.

"Ja, du hast Recht Vivalie. aber das beginnt nur, wenn man aufgibt zu hoffen." sagte Jake lächelnd und drehte einen Strohhalm ziwschen seinen Fingern.

"Um das Hoffen aufzugeben, muss man damit angefangen haben.", murmelte Alysha. Wir erziehen Jake noch zum Pessimisten... ob das gut ist? Noch immer kein Engel am Horizont.

"Ja, da hast du Recht."
Jake seufzte leise.
"Darum sollte man anfangen. Es ist klar, dass man ab und an enttäuschct wird, so ist nun mal das Leben. Aber darum darf man auch nicht aufgeben. Wie sagt man so schön: Die hoffnung stirbt zuletzt."
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Nun starrte er auch in den Himmel.

Das Problem ist, Jake, dass du nie das durchgemacht hast, was Vivie - und auch ich - ertragen mussten...du weißt nicht, wie es ist... Lange Zeit schwieg Alysha und betrachtete die Schilfhalme, in denen der Wind leise sein Lied wisperte. Sie dachte, es gäbe nichts zu sagen. Vielleicht war sie auch einfach zu oft enttäuscht worden. Aber ich bin froh, dass du nicht so bist... einer von uns muss ja der Optimist sein... Und irgendwann merkte sie, dass es doch etwas zu sagen gab.

"Ich wollte mich bedanken.", murmelte sie verlegen.

Jake schaute sie augenblicklich verdutzt an.
Hatte er sich da eben verhört?
Wofür wollte sich seine Schwester bedanken.
"Wofür bedankst du dich?"

Alysha lächelte schief. "Dafür, dass ihr immer noch für mich da seid. Dass ihr mich nicht im Stich lasst..." Ihr wisst gar nicht, was mir das bedeutet...