Das Grab

Viv schleppte Lestats Leiche zu den Wiesen und ließ ihn dann zu Boden fallen. Ihr taten die Arme weh. Reglos lag er da. Und irgendwie wusste sie, das nicht einmal die kehrseite ihrer Fähigkeit ihn wiederbeleben könnte. Er war schon weitergegangen.
Sie nahm die Schaufel und stieß sie in die krümelige Erde. Mechanisch hob sie Stück für Stück die Grube aus. Sie hatte das schon so oft getan, das es ihr keine Schwierigkeiten machte. Sie musste sich beeilen. Wenn man Lestat fand, würde mann sie sicher von der Schule schmeißen.
Schließlich war die Grube tief genug und Viv ließ vorsichtig Lestats Leiche hinein. Sie zögerte kurz, dann stieg sie hinunter und nahm seinen Umhang. Sie wusste zwar, das es nicht Celvins Umhang seinen konnte, aber die Gelegenheit war zu günstig um eine Erinnerung an ihn zu behalten...
Sie begann das Grab wieder zuzuschaufeln. Bei dem Gesicht zögerte sie. Jedesmal. Sie hasste es, die toten Gesichter mit Erde zu bedecken. Sie wandte den Blick ab und schloss das Loch vollständig.
Viv trat einen Schritt zurück und warf die Schaufel in die Büsche. Vielleicht würde sie sie noch einmal brauchen...

Sie ging noch einmal zum Gebüsch inüber und riss ein paar Äste aus. Sie bastelte ein behelfsmäßiges Kreuz daraus, nur um zu kennzeichnen, das dort jemand lag und ging zum Sportplatz.

Viv ging auf das Grab zu. Am Anfang war sie gerannt, doch mit der Zeit war sie immer langsamer geworden und ein paar Schritte vom Grab entfernt blieb sie stehen. Eigentlich war es ein schöner Ort. Das Grab hob sich wie ein sanfter Hügel aus der Landschaft, das Kreuz war noch immer gut zu sehen. Vorsichtig trat Viv vor und legte den zusammengefalteten Umhang vor das Keuz auf die Erde. Ausbuddeln, nur um Lestat den Umhang wieder anzuziehen, würde sie ihn ganz sicher nicht!
Nach kurzem Zögern setzte Viv sich vor das Grab und seufzte. Ihr wievieltes Opfer war er gewesen?
Es war nicht wichtig...
"Es tut mir leid.", flüsterte sie und ihre Stimme war kaum lauter als der Wind.

"Was tut dir leid?" Plötzlich stand Darren hinter Vivalie und sah auf sie herab. Er erinnerte sich dunkel daran, sie bei der Versammlung gesehen zu haben, doch ihren Namen kannte er nicht.

"Sehen sie den Umhang der dort liegt? So einen hatte mein bester Freund auch mal und ich hatte da versehentlich Kaffee drübergekippt, wenn sie verstehen was ich meine.", ratterte Viv automatisch herunter. "Das hat er mir bis heute nicht verziehen. Und naja, als ich ihn hier so liegen sah, musste ich daran denken."

Darren musterte seine Umgebung. Der Umhang lag auf einem frisch aufgehäuften Erdhügel, in dem ein einfaches Kreuz steckte. ein Grab... Den Rest konnte er sich schnell zusammenreimen. Sie hat jemanden umgebracht oder sie ist indirekt für den Tod von jemandem verantwortlich...jedenfalls gibt sie sich die Schuld dafür...und dieser Jemand liegt hier begraben...es war erst vor kurzem... warum hat sie niemandem etwas gesagt? Und was soll ich jetzt tun, da ich es weiß? Manchmal wünschte er sich, er könnte sein Hirn einfach abschalten und so dumm sein wie viele andere Vertreter seiner Art. Wissen bringt Verantwortung mit sich... Ich wünschte, ich hätte ihre Lüge nicht durchschaut, dann müsste ich jetzt nicht entscheiden...
Darren atmete tief durch. Dann setzte er sich im Schneidersitz neben das fremde Mädchen. Sie hatte lange, dunkle Haare und Augen, in denen sich ein Hauch von Verzweiflung widerspiegelte.
"Ich glaube dir nicht.", sagte er langsam. "Aber ich frage dich auch nicht nach der Wahrheit, denn die wirst du mir wohl ohnehin nicht erzählen wollen."

Viv seutzte.
"Was macht es schon für einen Unterschied, ob ich etwas will, oder nicht?" Sie warf einen Blick auf das Grab. "Es ist nicht so, als hätte ich viel mitzureden."

"Das wolltest du auch nicht, oder?", murmelte Darren. Vielleicht ihre Fähigkeit? Das wäre naheliegend... "Eines Tages wirst du wieder selbst entscheiden können, was du tust. Dann liegt es wieder an dir, deinen Weg zu gehen. Wir alle haben schwere Zeiten vor oder hinter uns. Den Krieg haben wir zwar überlebt, aber wir müssen noch entscheiden, was wir mit dem anfangen, was uns gegeben ist.", sagte er leise.

"Nein, ich wollte den Kaffee wirklich nicht über seinen Umhang kippen!", spottete Viv, obwohl sie wusste, das er sich nicht täuschen ließ und etwas anderes meinte. "Vielleicht werde ich wirklich irgendwann entscheinden können. Aber was mache ich bis dahin?", Viv riss Büschelweise Gras heraus. "Weiter machen, wie bisher? Etwas anderes bleibt mir nicht übrig."

"Ich weiß nicht.", sagte Darren. "Ich weiß ohnehin viel zu wenig..." Er schloss für einen Moment die Augen.
"Ich kann dir nur sagen, was mir geholfen hat...was mir immer noch hilft. Ich bin wie jedes andere Wesen, manchmal froh, manchmal wütend. Manchmal schreie ich, und manchmal bin ich ganz still. Aber tief in mir drin gibt es einen Ort, da ist es immer ruhig. Egal was passiert, ob ich kämpfen muss oder ob ich trauere. Selbst wenn die Welt irgendwann untergehen sollte, meine Ruhe verliere ich niemals. Das ist meine Zuflucht, wohin ich mich zurückziehen kann, wo ich immer noch ich selbst bin. Wo ich weiß, dass ich meine Gabe kontrolliere und nicht meine Gabe mich. Vielleicht kannst du diesen Ort auch finden -für dich."

Viv schüttelte den Kopf.
"Das wird eine lange Suche.", murmelte sie. Plötzlich neugierig sah sie zu Darren auf. "Was ist deine Gabe?"

Darren schloss wieder die Augen und drückte beide Handflächen auf den Boden. Die Erde begann leicht zu beben und kleine Brocken und Steine rollten von dem Grab. "Ich kontrolliere das Element Erde.", sagte er. "Doch genug. Es ist nicht klug, die Ruhe der Toten zu stören." Er löste seine Hände wieder vom Boden.

"Ich wünschte, ich könnte das.", meinte Viv trübsinnig. Sie warf noch einen Blick auf das Grab. "Glaubst du wirklich, an den Geschichten ist etwas dran? Wenn du sagst, es sei nicht klug die Ruhe der Toten zu stören. Glaubst du, das sie wiederkehren können... wiederkehren, um sich zu rächen?", sie versuchte es wie einen Witz klingen zu lassen, aber dafür war sie viel zu angespannt.

"Ich glaube, das wollen sie nicht.", sagte Darren nachdenklich. "Ich denke, dort, wo sie sind, ist es schön und friedlich, warum sollten sie wiederkehren? Rache wird irgendwann bedeutungslos, genauso, wie ihnen das ganze Leben jetzt bedeutungslos ist. Wir werden ihnen ohnehin alle folgen, irgendwann. Nein. Sie werden dich nicht heimsuchen. Und trotzdem sollten wir die Toten achten."
Er betrachtete das Grab gedankenverloren. "Warum willst du meine Gabe? Sie passt nicht zu dir. Für mich, einen groben, dreckigen Ork, ist sie gerade richtig. Aber für dich? Man kann mit ihr ebenso viel Zerstörung anrichten wie mit deiner, wenn man das will, und es wäre eine plumpe Waffe für ein Mädchen wie dich."
Seit wann offenbare ich anderen so viel von dem, was ich denke? Vielleicht weil sie Hilfe braucht... vielleicht auch weil es mir weiterhilft, darüber zu reden... "Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die eigene Gabe zu einem passt, und ich bin mir sicher, dass deine dir viel besser steht als meine." Er grinste kurz.

"Oh, da fühle ich mich aber geschmeichelt", spottete Viv. "Jede Fähigkeit ist besser als die, die ich besitze."

"Das kann ich nicht beurteilen.", sagte Darren. "Ich kenne deine Fähigkeit nicht."

Viv schluchzte auf.
"Alles was ich tue mache ich falsch! Sollte ich dir davon erzählen? Sollte ich irgendjemandem davon erzählen?"
Sie sah zu Darren auf, hoffte einfach nur, das er ihr sagte, was zu tun war.. das sie nicht mehr alleine war - und keine falsche entscheidung traf.

"Es liegt immer noch dir, deine Entscheidungen zu treffen.", sagte Darren. "Doch ich würde dir raten, das zu tun, was für dich am Besten ist. Verwechsel das nicht mit "am Angenehmsten", es heißt nicht, dass du dir das Leben leichter machen kannst. Doch jetzt geht es darum, dass es dir besser geht, denn wenn es dir gut geht, passieren Unfälle dieser Art seltener. Wenn es dir weiterhilft, kannst du es mir erzählen, wenn nicht, dann lass es."
Er schwieg eine Weile. Dann begann er wieder zu sprechen. "Und noch ein Tipp: Zeige deine Gefühle immer. Wenn du dich verschließt, dann bahnt sich deine Fähigkeit einen Weg, um deine Gefühle auszudrücken."

"Ich versuche meine Gefühle nicht zu zeigen.", erklärte Viv. "Eben weil meine Fähigkeit besonders dann in kraft tritt, wenn ich irgendwelche starken Gefühle hege. Und diese Entscheidung.. sie ist nicht einfach. Ich habe Angst, das alle von meiner Fähigkeit erfahren würden, wenn ich es irgendjemandem verrate, und ich habe angst, das noch mehr menschen sterben, wenn ich es nicht tue."

"Gefühle kann man nicht unterdrücken." sagte Darren. "Niemand kann das. Du musst lernen, deine Fähigkeit von deinen Gefühlen zu trennen. Sie gehört zu deinen Gedanken und nicht zu deinen Empfindungen."
Er rutschte ein Stück von dem Grab fort und legte sich auf den Rücken. Der Himmel über ihm war märchenhaft blau, doch gerade das schien trügerisch. "Ich kenne deine Fähigkeit immer noch nicht.", sagte er. "Und ich kann keine Entscheidungen für dich treffen. Ich kann nur da sein, wenn du jemanden zum Reden brauchst."

Viv zögerte kurz. Machte es überhaupt einen unterschied, was sie tat?
"Ich töte.", sagte sie seufzend, und zum zweiten mal in kürzester zeit. "ich kann es nicht kontrollieren. Alles in meiner umgebung stirbt ab." Sie wies auf das Grab. "Der arme Junge dort war nur zur falschen Zeit am falschen Ort."

"Ist das alles?", fragte Darren. "Du kannst es nicht...rückgängig machen, oder so?"

"Doch.", flüsterte Viv. "Das ist ja das Schlimme. Ich kann es, aber ich weiß nicht wie!", sie lachte hart auf. "Einmal hat es geklappt, und dann nicht mehr. Weißt du, was das bedeutet? Das sie alle umsonst gestorben sind! Alle!" Wieder begann sie die Grashalme auszureisen, nur um irgendetwas zu tun. "Ich hätte sie retten können.", wisperte sie. "Sie alle."

Darren richtete sich auf und hielt sanft ihre Hände fest. Sie waren so schmal, dass sie beide in eine seiner Hände passten. "Was geschehen ist, ist geschehen. Lass die Vergangenheit ruhen; sie ist jetzt nicht von Bedeutung für dich. Wenn du nur zurückschaust, verpasst du deine Zukunft."
Er sah in die Ferne, wo die Schule lag. "Die meisten hier haben eine ähnliche Vergangenheit wie du -ich auch. Du bist nicht allein. Doch wenn wir alle hier stehen bleiben, kommen wir nicht mehr voran. Irgendwann wird der Tag kommen, an dem du es wieder gut machen kannst. Deshalb musst du weitermachen. Es gibt einen Grund, warum es dich gibt -es gibt für alles einen Grund. Ich kenne deinen Grund nicht, aber ich weiß, es ist ein guter Grund."

Plötzlich war sie froh, sich ihm anvertraut zu haben. So seltsam das für sie auf war, aber sie fühlte sich getröstet.
Als würde er sie verstehen.
Vielleicht tat er das sogar. Es war ein gutes Gefühl.
Aber konnte sie die Vergangenheit hinter sich lassen? Nein, das war ein Teil von ihr geworden, ihre Vergangenheit würde sie nie verlassen...
"Bitte sag es niemandem weiter.", fllüsterte sie. "Sonst haben sie womöglich Angst - oder doch, sie sollten es wissen, dann halten sie sich fern...", sie murmelte so leise, das sie sich kaum selbst verstand. Ihr war nach heulen zumute.